Italien, fünfter Teil


Mit etwas Verspätung diese Woche gibt es hier jetzt den fünften Teil aus meinem Nebenprojekt „Italien“.

Viel Spaß beim Lesen,

John

Allerdings sah am nächsten Morgen überhaupt nichts besser aus.

Im Gegenteil.

Meine Hand schmerzte höllisch und auch mein Kopf brummte, dank des ganzen Alkohols, den ich mir am letzten Abend einverleibt hatte. Hinzu kam, dass Eddy zehn Nachrichten auf meinem Handy hinterlassen hatte. Ich hatte ihn gestern einfach dort stehen gelassen. Ich hatte ihn in dem Moment einfach nicht sehen wollen und erst recht nicht erklären wollen, wie ich mir die Hand verletzt hatte.

Auch jetzt war ich nicht bereit ihm das zu erklären, allein die Vorstellung ihn zu sehen und mit ihm zu reden, bereitete mir Schmerzen.

Also würde ich mich erst einmal um meine körperlichen Schmerzen kümmern, bevor ich mich mit den seelischen befassen würde. Der Wohnwaggon war vollkommen ruhig, also vermutete ich, dass meine Eltern schon wieder unterwegs waren. In der Küche bestätigte sich mein Verdacht, als ich einen kleinen Zettel auf dem Küchentisch fand:

„Guten Morgen. Dein Vater und ich sind am Strand, wenn irgendetwas ist, oder du irgendetwas brauchst, ruf auf dem Handy an. Ansonsten weißt du ja wo alles steht. Die Schmerztabletten, die der Arzt uns mitgegeben hat, liegen hier auf dem Tisch. Er meinte du solltest morgens und abends eine nehmen. Bis später, alles Liebe Mama.“ Ohne zu zögern schnappte ich mir die Tabletten und nahm zwei davon, schliesslich definierte ich meine Schmerzen als sehr schlimm. Als ich gerade die Frühstückssachen heraus holte, klingelte mein Handy. Auf dem Display blinkte groß Eddys Name. Trotz meines schlechten Gewissens legte ich das Handy weg, ohne dran zu gehen. Bevor er noch weitere Male anrufen konnte, schaltete ich es aus und brachte es zurück in mein Zimmer. Ich brauchte Abstand, von ihm. Erst musste ich meine Gefühlswelt wieder in Ordnung bringen, bevor ich ihm erneut begegnen konnte.

Nachdem ich fertig war mit frühstücken und die Schmerzen dank der Tabletten endlich verblassten, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Die Gardinen hatte ich zugezogen, in der Hoffnung, das Eddy nicht auf die Idee kam einfach rüber zu kommen. Noch immer beschäftigte mich eine fundamentale Frage: Konnte ich wirklich schwul sein?

Ich hatte doch lange Zeit eine einigermaßen glückliche Beziehung mit einem Mädchen geführt. Solange ich denken konnte, hatte ich noch nie ein besonderes Interesse an Jungs gezeigt. Hatte ihnen nicht hinterher geschaut oder ihre Körper bewundert. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass mein Interesse an Mädchen eigentlich genauso gering gewesen war, bis ich meiner jetzigen Exfreundin begegnet war. Sie hatte etwas an sich gehabt, was mich in ihren Bann gezogen hatte, ähnlich wie es bei Eddy der Fall gewesen war. Unsere Beziehung war schön gewesen, doch irgendwie war ich nie wirklich glücklich gewesen, irgendetwas hatte immer gefehlt. Aber trotzdem, nur weil sie nicht das richtige Mädchen gewesen ist, hieß das doch noch nicht, dass ich schwul war oder?

Noch viel wichtiger war, was würden meine Eltern dazu sagen? Ich war ihr einziges Kind, von mir hingen die Nachkommen ab, da konnte ich sie unmöglich enttäuschen. Außerdem hab ich doch selber den Wunsch später mal eine Frau zu bekommen, Kinder zu zeugen und dann mit meiner Familie glücklich in einem Haus zu wohnen. Diese Vorstellung konnte ich getrost vergessen, wenn ich schwul war.

Eine ganze Zeit lang drehten sich meine Gedanken so im Kreis, immer wieder dachte ich über meine Gefühle zu Eddy nach, darüber was meine Eltern dazu sagen würden und stellte mir meine Zukunft vor. Je mehr ich über all das nachdachte, desto verwirrter wurde ich. Irgendwann stand für mich fest, dass ich mit jemandem Reden musste.

Doch mit wem? Mit meinen Eltern?

Wohl kaum, nicht das die mich noch rausschmissen. Eddy wollte ich nach wie vor nicht sehen, außerdem musste ich auch bei ihm Angst haben, dass er es nicht gut heißen würde. Von meinen Freunden konnte ich auch niemanden anrufen, wer wusste schon, was die dazu sagten. Nur eines war mir klar, ich brauchte einen Rat, von wem auch immer.

Unruhig und völlig verunsichert ging ich im Wohnwaggon auf und ab, der letzte Abend hatte mich in meinen Grundfesten erschüttert.

Mir war klar geworden, dass ich selber nicht einmal genau wusste, wer ich überhaupt war. Um mich ein wenig abzulenken schnappte ich mir eine Werbebroschüre des Campingplatzes und blätterte sie durch. Plötzlich blieben meine Augen an einer Anzeige hängen.

Natürlich!

Warum war ich da nicht eher drauf gekommen? Schnell schnappte ich mir mein Portemonnaie, meinen Schlüssel und verließ fluchtartig den Waggon. Endlich glaubte ich eine Möglichkeit gefunden zu haben, Antworten auf meine Fragen zu bekommen.

Schnell bewegte ich mich durch die Gassen des Campingplatzes, vorsichtig achtete ich darauf, Eddy nicht über den Weg zu laufen. Schließlich erreichte ich mein Ziel, es lag zwischen den Geschäften der Einkaufspassage. „Internetcafe“stand über dem Eingang. In der Broschüre des Campingplatzes hatte ich zufällig die Anzeige dieses Cafés gefunden und war auf die Idee gekommen, einfach mal im Internet nachzuschauen. Denn im großen world-wide-web würden sich hoffentlich Antworten auf meine Fragen finde. Es musste da draußen ja immerhin Jugendliche geben, die sich mit den gleichen Fragen und Problemen beschäftigten.

Eilig kaufte ich mir an der Kasse einen Chip, um einen der Computer eine Stunde lang nutzen zu können. Zu meiner Überraschung war der Rechner sogar erträglich schnell, sodass man nach einem Klick nicht erst eine halbe Stunde warten musste, bis man weiterarbeiten konnte. Allerdings erleichterte mir die verbundene Hand das Arbeiten mit dem Rechner nicht gerade.

Ich war mir sicher, dass ich  mit diesem Handicap etwas länger beschäftigt war und die Tatsache, dass mich durch die Fensterfront des Gebäudes jeder Passant sehen konnte, war nicht gerade beruhigend. Ich schaute mich noch einmal sicherheitshalber um, ob noch irgendein anderer Rechner frei war, aber es waren alle belegt. Mir blieb wohl nichts anderes übrig als mit dem Risiko zu leben, dass Eddy oder sonst irgendjemand vorbeikommen könnte und mich hier sehen könnte. Die Trennwände die links und rechts von den Bildschirmen angebracht waren, verhinderten, dass man sehen konnte, was der Nachbar gerade so machte. Ein erfreulicher Umstand, zumal ich nicht sicher war, ob man wirklich wissen wollte was sich diverse Gestalten in diesem Raum so anschauten.

Mit Hilfe von Google fand ich einige Seiten die sich mit dem Thema beschäftigten und trotzdem jugendfrei waren. Allerdings empfand ich die meisten Seiten als nicht wirklich aufschlussreich, bis ich schließlich ein Forum fand, das extra für schwule Jugendliche gemacht worden zu sein schien. Ich las mir zahlreiche Themen und Beiträge durch und stellte erleichtert fest, dass ich nicht der einzige mit diesen Problemen war. Eine noch viel größere Erleichterung war es für mich, festzustellen, dass die meisten der Jungs die dort über das Thema diskutierten völlig normal zu sein schienen. Bei fast keinem bekam man das Gefühl, dass er so eine exentrische, bunte Klischeeschwulette war, wie sie im Fernsehen immer  dargestellt wurden.

Während ich mir einen Beitrag nach dem nächsten durchlas, versank ich vollkommen in meiner eigenen Welt. Meine Gedanken folgten dem Takt des Klicken und Ratterns der anderen Computer. Alle 60 Minuten wurde ich einmal aus dieser Welt von Unsicherheit, Verwirrung und langsamer Erkenntnis gerissen, um die Gebühr für eine weitere Stunde zu zahlen. In der dritten Stunde wurde die Verwirrung dann endlich weniger und ich wurde mir langsam aber sicher bewusst, dass es völlig Ok war schwul zu sein. Auch wenn der Gedanke noch immer Unbehagen in mir auslöste, merkte ich, wie mein „inneres Coming Out“, wie es in dem Forum immer genannt wurde, langsam voran schritt. Nach einiger Zeit verließ ich meine eigene Welt abermals und begann wieder meine Umgebung  wahrzunehmen. Es war inzwischen deutlich leerer geworden, draußen setzte das abendliche Treiben ein, die Familien verließen den Strand und machten sich auf den Weg zurück zu ihren Campingwaggons. Als ich mich wieder meinen Computer zuwandte, streifte mein Blick den Eingang.

Mein Herz blieb fast stehen, als ich sah wer dort hinein kam.

Schnell machte ich mich daran alle Fenster zu schließen, niemand durfte wissen, was ich hier gerade nachgeschaut hatte. Doch schon nach zwei Schritten war die Person neben mir. „Hallo Ben.“, vernahm ich die vertraute Stimme, als ich gerade das letzte Fenster schloss…

Da stand er, ausgerechnet derjenige, den ich jetzt überhaupt nicht sehen wollte, Eddy. Sein Gesicht zierte diesmal nicht dieses sympathische Lächeln welches er sonst so oft zeigte, stattdessen bildeten sich Sorgenfalten auf der Haut. Nach einigem Zögern antwortete ich mit einem gekrächzten „Hi!“, meine Kehle war vor Angst, dass er gesehen habe könnte auf was für einer Website ich war, ganz zugeschnürt.

„Wie ist das denn passiert? Geht es dir gut?“, er zeigte auf meine verbundene Hand. Er schien sich ernsthaft Sorgen um mich zu machen. Ich beschloss erst einmal so zu tun, als sei der gestrige Abend nicht passiert, schließlich konnte er auch eigentlich nichts dafür.

„Ja, geht schon, nur eine kleine Schnittverletzung.“, ich war bemüht um einen möglichst gleichgültigen Ton

„Schnittverletzung? Wie hast du die denn bekommen?“

„Ach das war nichts, ich bin einfach falsch abgebogen, als ich auf Toilette wollte und bin draußen ausgerutscht und in einen Stapel Kartons gefallen, in dem Flaschen waren.“

„Autsch, das tat sicher weh.“, mitleidig sah er mich an. „Ist das der Grund, warum du gestern so schnell abgehauen bist?“, fragte er, ohne das ein Vorwurf in seiner Stimme lag.

„Ja. Ich bin danach nur noch schnell raus und hab meine Eltern angerufen. Die haben mich dann auch sofort ins Krankenhaus gebracht.“, erzählte ich. Die Tatsache, dass ich ihm mit Absicht nicht Bescheid gesagt hatte, verschwieg ich lieber. Mir war dieses Gespräch noch immer unangenehm, sodass ich am liebsten schnell weg wollte. Verbissen überlegte ich mir, wie ich am geschicktesten aus dieser Situation raus kam. Die Ausrede, dass ich schnell zurück müsse würde nicht fruchten, schließlich würde er mich dann ganz einfach begleiten. Also blieb mir nichts als die Flucht nach vorne. So konnte ich vielleicht noch herausfinden, was am gestrigen Abend sonst noch zwischen ihm und Maike gelaufen war. Jedoch war es nicht nötig noch länger hier zu bleiben. Ich hatte mir genügend Infos gesucht und ich hatte bessere Chancen von ihm los zu kommen, wenn wir erst einmal wieder zurück am Wohnwaggon waren.

„Hey, lass uns doch schonmal gehen, ich war hier sowieso gerade fertig.“ schlug ich vor.

„Aber gerne, ich war auch eigentlich gerade auf dem Weg zurück zum Waggon, als ich dich hier zufällig gesehen habe.“ Gemeinsam verließen wir das Internetcafé, als wir draußen in die frische Luft traten, fiel mir auf, was für ein Mief in dem kleinen Lokal geherrscht hatte. Befreit holte ich Luft und fasste neuen Mut für das, was ich jetzt eventuell noch herausfinden würde.

„Wie war es gestern eigentlich noch?“, fragte ich. Ich merkte, wie er einen Moment zögerte, bevor er antwortete, doch dann zuckte er mit den Schultern:

„Ging so, ich bin auch ziemlich schnell gefahren, nachdem du so plötzlich verschwunden warst. Allerdings war ich auch ziemlich betrunken, darum fehlen mir manche Teile des Abends muss ich gestehen.“ Neue Hoffnung keimte in mir auf. War seine Rumknutscherei vielleicht nur ein Produkt des übermäßigen Alkoholkonsums gewesen?

Eventuell konnte dieses Gespräch noch ganz aufschlussreich sein.

„Was weißt du denn noch?“, fragte ich ihn und sah ihn dabei interessiert an.

Er runzelte die Stirn als er nachdachte, dabei fiel mir auf, wie süß er aussah, wenn er das tat. Im ersten Moment überraschte mich dieser Gedanke selber, doch ich wehrte mich nicht dagegen. Bei all den Berichten die ich gelesen hatte war mir klar geworden, dass ich anfangen musste zu akzeptieren wer ich war und dazu gehörten auch solche Gedanken.

„Mhh also ich weiß noch wie wir angekommen sind und auch noch wie wir die erste Zeit mit Tanzen und Trinken verbracht haben, aber danach verblasst alles ein wenig. Ich weiß noch wie wir auf einmal mit diesen zwei Mädchen zusammen saßen.“ Er stockte ein wenig, erst sah es so aus, als ob er noch etwas sagen wollte, doch dann winkte er ab: „Das nächste woran ich mich dann erinnere ist, wie ich hier aus dem Taxi gestiegen bin und zurück zum Wohnwaggon getorkelt bin.“

Sein zögern hatte mich stutzig gemacht. Hatte er sich wirklich nicht an den Vorfall mit Maike erinnert oder verschwieg er ihn einfach nur? Einen Moment überlegte ich ob ich ihn drauf ansprechen sollte, aber da fiel mir ein, dass er ja gar nicht wissen konnte, dass ich sie so zusammen gesehen hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass er mich erwartungsvoll ansah.

„Entschuldige, hast du noch etwas gesagt?“, fragte ich.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du wirkst heute so abwesend.“ Stellte er fest.

„Ja, das muss an den Schmerztabletten liegen.“, log ich. „Also, was hattest du gefragt?“

Er sah mich noch einen Moment misstrauisch an, doch dann sagte er:
„Ich wollte nur wissen, ob ich irgendeinen wichtigen Part vergessen habe, oder ob meine Erinnerung an gestern Abend doch nicht so schlecht ist wie ich dachte.“

„Ich glaube du hast das wichtigste zusammen, ansonsten ist nichts gravierendes passiert. Allerdings kann ich dir natürlich nicht sagen was passiert ist als ich schon weg war. Ich weiß ja nicht, was du und Maike gestern noch so gemacht haben.“ erklärte ich. Einen Moment sah es so aus als fühle er sich bei irgendetwas ertappt, dann murmelte er etwas, dass ich nicht verstehen konnte.

„Bitte was?“, fragte ich nach.

„Ach ich meinte nur, dass hoffentlich nichts mehr zwischen Maike und mir passiert ist.“ Er zuckte mit den Schultern, „Vielleicht fällt es mir in den nächsten Tagen ja wieder ein. Wie sieht das mit deiner Hand aus, wann darfst du wieder ins Wasser?“, fragte er.

Diesmal zuckte ich mit den Schultern: „Ich weiß nicht, aber der Arzt meinte, dass das ziemlich schnell verheilt. Ich hoffe, dass ich so in drei oder vier Tagen wieder ins Wasser kann da mit.“

„Drei oder vier Tage?“, fragte er ungläubig. „Dann ist der Urlaub ja fast vorbei. Nein, wir finden schon eine Möglichkeit, wie du eher wieder durchstarten kannst.“, sagte er und zwinkerte mir zu.

Gefühle stiegen wieder in mir hoch. Verlangen, Verlangen nach ihm. Ich wollte ihm nahe sein und Zeit mit ihm verbringen, auch wenn ich wusste, dass ich ihm nicht so nahe sein konnte, wie ich es eigentlich wollte.

„Das wäre cool.“, erwiderte ich.

„Morgen bin ich allerdings den ganzen Tag mit meinen Eltern unterwegs, die machen einen Ausflug und wollen mich gerne dabei haben. Wenn du Lust hast kannst du ja mitkommen.“, bot er an.

„Besser nicht, ich will mich noch ein bisschen ausruhen. Außerdem sind meine Eltern auch ganz froh, wenn ich mal was mit denen mache.“ lehnte ich ab.

„Ok. Was hältst du davon, wenn wir Übermorgen wieder Surfen gehen? Die Einsteigerphase hast du ja jetzt überwunden, dann könntest du auch richtig loslegen.“

„Klingt gut, nur müssen wir erst eine Lösung dafür finden“, ich hielt die verbundene Hand in die Höhe.

„Wie gesagt, das machen wir schon. Ich hab da schon eine Idee“, sagte er. Wir hatten mittlerweile  unsere Wohnwaggons erreicht.

„Ach, falls du mal auf dein Handy schaust, denk dir nichts bei den guten 100 Anrufen und Nachrichten. Ich hatte mir nur so ein paar Gedanken um dich gemacht, als du verschwunden warst.“, sagte er mit einem verlegenen Lächeln.

Beschämt dachte ich an die unbeantworteten Anrufe auf meinem Handy.
„Oh ok, das liegt glaub ich immer noch neben dem Bett und lädt, dass hab ich vorhin vollkommen vergessen, als ich aufgestanden bin.“ log ich.

„Ja macht ja nichts. So ich muss rein, meine Eltern wollen jetzt gleich mit mir Essen gehen. Also machs gut, wir sehen uns spätestens Übermorgen.“ Er wollte zum Abschied einschlagen, aber als er sich an meine kaputte Hand erinnerte, umarmte er mich kurzerhand, kumpelhaft klopfte er mir auf den Rücken.

„Ciao.“, sagte ich, als er in seinem Waggon verschwand. Auch wenn es nur kurz gewesen war, hatte ich die Umarmung von ihm genossen. Mit einem unterdrückten Seufzen ging ich meinerseits in den Wohnwaggon.

Drinnen erwartete mich meine Mutter auch schon mit einem vorwurfsvollen Blick.

„Na wo haben wir uns wieder herumgetrieben? Ich weiß ihr jungen Leute lebt im Zeitalter von Handys und Computern, aber wäre es dennoch zu viel verlangt gewesen einen kleinen Zettel da zu lassen?“ Ich merkte, das der Vorwurf nur halb ernst gemeint war.

„Tut mir leid, habe ich vergessen.“

„Genau so wie dein Handy!“, böse schaute sie mich an, doch dann wurde sie versöhnlicher. „Wir haben ja nichts dagegen, wenn du auf eigene Faust losziehst, aber könntest du uns wenigstens sagen wo du bist? Das wir uns nach gestern Abend noch mehr Sorgen machen ist doch wohl klar.“

Ausnahmsweise musste ich meiner Mutter mal Recht geben, es wäre wirklich besser gewesen einen Zettel da zu lassen.

„Entschuldigung, beim nächsten Mal denke ich dran.“, versicherte ich meiner Mutter. Interessiert schnupperte in Richtung Küche, wo einige Töpfe auf dem Herd standen, in denen das Abendessen köchelte.

„Was gibt es denn?“ fragte ich. Mein Vater, der mit der Beaufsichtigung des Essens beauftragt zu sein schien, antwortete:
„Wie es sich gehört wenn man in Italien ist, gibt es Spaghetti.“ Er grinste mich an, woraufhin ich losprustete.

Das Gesicht meines Vaters war rot wie die Schale eines Hummers.

Als ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, sah ich wie er beleidigt drein schaute.

„Mach dich nur lustig. Ich will mal wissen, wie du aussiehst, wenn du die Sonnencreme vergisst.“

„Naja, ruft mich wenn das Essen so weit ist, ich leg mich in der Zwischenzeit noch etwas hin.“, erklärte ich und ging in mein Zimmer.

Ich legte mich auf mein Bett und holte mein Handy hervor, auf dem immer noch die ganzen unbeantworteten Anrufe und Nachrichten von Eddy angezeigt wurden.

Schlagartig änderte sich meine Stimmung.

Ich musste daran denken wie besorgt er um mich gewesen war und wie wichtig es ihm war Zeit mit mir zu verbringen. Eine neue Sehnsucht nach ihm wurde in mir entfacht, meine Gedanken drehten sich anschließend nur noch um ihn.

Erst als meine Mutter hereinkam um mich zum Essen zu rufen, wurde ich kurz aus meinen Gedanken gerissen. Doch obwohl ich Hunger hatte, konnte ich mich nicht am Essen erfreuen und stocherte nur abwesend darin herum. Irgendwann reichte es meinem Vater:
„Das sind Nudel, die brauchst du nicht mehr erstechen.“, versuchte er lustig zu sein. Als er merkte, dass sein ohnehin billiger Witz nicht fruchtete fragte er: „Ist alles Ok? Du wirkst ziemlich niedergeschlagen heute.“

„Ne mir geht es gut, ich bin nur noch etwas kaputt von gestern. Meint ihr ich kann übermorgen mit Eddy surfen gehen?“

Kritisch runzelte mein Vater die Stirn.

„Meinst du denn, dass das schon wieder geht mit deiner Hand?“, fragte er.

„Joar ich denke schon, wenn die Schmerzen zu schlimm werden, nehme ich einfach noch welche von den Schmerztabletten.“

„Du kannst es ja versuchen und wenn du merkst es geht nicht mehr, lässt du es einfach. Hast du schon etwas für morgen geplant?“

„Nein, Eddy ist morgen mit seinen Eltern unterwegs und ich wollte lieber hierbleiben anstatt mit zu gehen.“, erklärte ich.

„Na gut, wir haben für morgen noch nichts weiter geplant, wir können ja sehen was wir machen, wenn dir kurzfristig noch was einfällt wo du Lust zu hast, dann sag das einfach.“

„Mache ich.“

Den Rest der Mahlzeit verbrachten wir damit, uns über die katastrophalen Zustände aufzuregen, welche in dem Krankenhaus geherrscht hatten, in dem wir letzte Nacht gewesen waren.

Froh endlich meine Ruhe zu haben sank ich auf mein Bett. Auch wenn es noch nicht sehr spät war, hatte ich keine Lust irgendetwas zu machen oder irgendwo hin zu gehen. Während meine Eltern die Bar aufsuchten, in der Eddy und ich am ersten Abend gewesen waren, blieb ich lieber hier und hing meinen Gedanken nach.

Sehnsucht machte sich in mir breit, ich vermisste Eddy. Ich vermisste sein Lächeln, diesen spitzbübischen Ausdruck in seinen Augen, wenn er wieder etwas ausheckte. Ich vermisste einfach seine ganze Art. Mir kam wieder der erste Abend in den Sinn, die Szene in der er so dicht vor mir gestanden hatte, nachdem er mir meinen Rücken abgetrocknet hatte. War das nicht schon der Moment gewesen, in dem ich mich in ihn verliebt hatte?

Ja.

Von diesem Moment an hatte ich in seinem Bann gestanden ohne es zu wissen. Bis gestern.

Doch schon da musste ich auf schmerzhafte Weise erfahren, dass er diese Gefühle wohl nicht erwiderte. Vor meinem geistigen Augen sah ich ihn mit dieser Maike rummachen. Wie es wohl war ihn zu küssen? Wie fühlte es sich überhaupt an einen anderen Jungen zu küssen? Es war komisch für mich, mich solchen Gedanken zu stellen. Ein Teil von mir versuchte immer noch mir einzureden, dass so etwas falsch war, aber in meinem Inneren spürte ich, dass es genau das war was ich wollte: einen Jungen küssen. Aber nicht irgendeinen Jungen, sondern Eddy.

Verzweiflung machte sich in mir breit, als mir wieder bewusst wurde, dass das vermutlich nie passieren würde. Ich erinnerte mich an die Berichte in dem Forum. Gab es irgendwelche Anzeichen, nach denen er schwul sein könnte? Fieberhaft und verzweifelt überlegte ich, aber schnell wurde mir klar, dass es nicht den geringsten Hinweis darauf gab, dass er sich zu Jungen hingezogen fühlte. Sein Techtelmächtel mit Maike war hingegen ein klares Signal gewesen, dass er auf Mädchen stand. Doch was stand nochmal in den meisten Berichten? Hinweise, Anzeichen und dies alles waren eigentlich vollkommen wertlos. Einige berichteten von Jungs die über Ewigkeiten hinweg Andeutungen gemacht hatten oder deren Verhalten ein Interesse erahnen ließ, aber als sie dann darauf angesprochen wurden vollkommen abweisend oder unwissend reagierten. Die nächsten erzählten von den typischen beliebten Kerlen, die seit je her der Frauenschwarm der Schule waren, welche auf einmal ihre wahren Gefühle gestanden. Es war also noch immer alles möglich, auch wenn die Hoffnung nicht groß war. Sollte ich ihn einfach mal darauf ansprechen? Ich versuchte mir auszumalen, wie er reagieren würde, wenn ich ihm sagte das ich mich in ihn verliebt hatte. Im ersten Szenario schaute er mich nur angewidert an, bevor mich unter wüsten Beleidigungen stehen ließ.

Im zweiten Szenario lächelte er mitleidig, als er mir erklärte, dass er leider nicht so fühle, dass er aber kein Problem damit habe und es nichts an unserer Freundschaft ändern würde.

Das dritte Szenario war für mich mehr eine Art Traumvorstellung, denn eine realistische Alternative. Allerdings war es eben diese Traumvorstellung, zu der ich die lebhaftesten Bilder im Kopf hatte. In dieser Utopie schaute er mich erst einen Moment überrascht an, bevor er dann begann mich leidenschaftlich zu küssen. Ich sponn diesen Gedanken weiter, dahin wie es wohl Aussehen würde, wenn wir eine Beziehung führen würden. Ich stellte mir vor, wie wir uns heimlich küssten, während wir mit unseren Eltern unterwegs waren, oder wie wir Händchenhaltend am Strand entlang spazierten. Obwohl sich diese Vorstellungen bei weitem am besten anfühlten, blieben es trotz allem die Fantasien eines Verliebten.

Es war klar, das, obwohl zwei der drei möglichen Ausgänge gut für mich waren, die Wahrscheinlichkeit für das erste Szenario noch am höchsten war. Ausgerechnet dieses war das Szenario, welches am schlimmsten für mich wäre. Ich wollte ihn nicht verlieren, nicht als Urlaubsbekanntschaft und vor allem nicht als Freund. Mir blieben also nur zwei Möglichkeiten, entweder ich sagte es ihm, mit dem Risiko ihn als Freund zu verlieren und der Chance ihn als Liebhaber zu gewinnen, oder ich behielt meine Gefühle für mich und sicherte damit die Freundschaft.

Ratlos was ich tun sollte, wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Niemals hätte ich mir vor diesem Urlaub träumen lassen, dass ich mich während dieser kurzen Zeit verlieben würde.

Immer wieder ging ich die verschiedenen Möglichkeiten durch, die mir blieben aber ich kam immer wieder zu dem selben Schluss.

Es wäre vermutlich das Beste, wenn ich meine Gefühle einfach für mich behielt und versuchte mich die restlichen Tage des Urlaubs mit seiner Freundschaft zufrieden zu geben.

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2 Antworten zu Italien, fünfter Teil

  1. AngeloConCuore schreibt:

    Ach, ist das schön, so richtig verliebt zu sein, auch wenn es schon ein bisschen weh tut. Aber es ist ein schöner Schmerz. Besonders, wenn man nicht weiß, ob der andere auch diese Gefühle hegt. Oder wie hier in deiner Geschichte, wo Ben wohl eher annimmt, dass Eddy nicht so für ihn empfindet. Oh Mann, Liebeskummer pur! ^^

  2. John Moccasin schreibt:

    Da gebe ich dir Recht, verliebt zu sein ist immer ein tolles Gefühl, wobei ich denke, dass diese Spannung vorher, wenn man nicht weiß ob der andere genauso empfindet wie man selbst, auch ziemlich schön ist. Das gehört einfach mit dazu finde ich:)

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